Johannes Stelling – ein Leben für die Sozialdemokratie
Stellingdamm 36 in Köpenick-Nord – eine Tafel erinnert an den Bewohner der damaligen Dahlwitzer Straße 36, Johannes Stelling.
In der Nacht vom 21. zum 22.Juni 1933 hatten SA-Schläger das sechsundfünfzigjährige Mitglied des Deutschen Reichstages und des SPD-Parteivorstandes in das Lokal Seidler und danach in das Amtsgerichtsgefängnis verschleppt und zu Tode gequält. Sein Leichnam war so zugerichtet, dass die Angehörigen nur an Monogrammen in Trauring und Taschentuch den Gatten und Vater erkannten. Er gehört zu den bisher bekannten 25 Todesopfern eines frühen und besonders grausamen Nazi-Verbrechens, der „Köpenicker Blutwoche“.
Johannes Stelling wurde am 12. Mai 1877 in Hamburg als Sohn eines Schneiders und einer Köchin geboren. Mit Beendigung der Lehre als Handlungsgehilfe wurde er Gewerkschaftsmitglied und erlebte Streiks für mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit. Sein politisches Interesse an der Sozialdemokratie war erwacht. Von 1901 bis 1919 war er Redakteur des „Lübecker Volksboten“.Er heiratet Weihnachten 1901 Frieda Jandrine Amalie Schilling und zog mit ihr in die Lübecker Gneisenaustr. 1a. Zur gleichen Zeit wurde er Mitglied der SPD und Vorsitzender der Gewerkschaft der Handels- und Transportarbeiter.
Als die ersten vier Sozialdemokraten 1905 in die Lübecker Bürgerschaft gewählt wurden, war Johannes Stelling unter ihnen. Der „Lübecker Volksbote“ vom 21.11.1907 informierte über das Wahlergebnis: Abteilung II: Johannes Stelling, Redakteur: 714 Stimmen (1905: 585 Stimmen) und konstatierte: „Die sozialdemokratischen Stimmen haben einen erfreulichen Zuwachs erhalten.“
Damit begann Stellings ununterbrochene Abgeordnetentätigkeit für die SPD, in der er sich für die politischen und sozialen Rechte der Benachteiligten einsetzte. Sein kämpferisches Leben war jedoch nicht frei von Widersprüchen. Gemeinsam mit seinen Genossen und Kollegen hatte er sich lange für die Erhaltung des Friedens eingesetzt. Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, schloss sich Stelling dem Kurs der Parteiführung zur Unterstützung des Krieges an.
Später, während der Novemberrevolution 1918/19, stand er an der Seite des Lübecker Arbeiter- und Soldatenrates. Mit Stolz erklärte er in der 8. Sitzung der Lübecker Bürgerschaft am 17. März 1919:
„Als im Jahre 1905 die ersten vier Sozialdemokraten in die Lübecker Bürgerschaft ihren Einzug hielten, hat wohl niemand gedacht, daß in knapp 1½ Jahrzehnten die sozialdemokratische Fraktion in der Bürgerschaft die Mehrheit bilden würde. Niemand hat auch damals geglaubt, daß jetzt in der Bürgerschaft das weibliche Geschlecht vertreten sein würde.“
Im Jahr zuvor am 28.November 1918 fand die 8–Stunden-Feier in Lübeck statt. Der „Volksbote“ meldete am Tag darauf: „Genosse Stelling hob in kurzen, gewählten Worten die Bedeutung dieser Feier hervor, den Wert des Festtages, den wir uns selbst gewählt haben, den Tausende von Proletariern, Soldaten und Frauen begehen. Wir feiern diesen Tag, erklärte der Redner, weil die alte Forderung des 8-Stunden-Tages erfüllt wurde. Nicht nur dieses ist erreicht, die Arbeiterschaft hat auch mit Hilfe der Freunde in Feldgrau das alte morsche System zertrümmert...“
Stelling legte ein kommunalpolitisches Konzept vor und erarbeitete Grundsätze für eine demokratische Landesverfassung, für Gleichberechtigung der Unterdrückten und soziale Gerechtigkeit, für gesunde Schul-, Wohnungs- und Jugendpolitik.
Ab 1919 war er Innenminister und von 1921 bis 1924 Ministerpräsident des Landes Mecklenburg–Schwerin. Seine Arbeit in der Regierung und im Landtag führte zur Ausarbeitung einer demokratischen Landesverfassung, zur Reformierung des Schulwesens und zu anderen sozialen Fortschritten. Den Vorbereitungen des Kapp-Putsches durch die Reaktion auf den Mecklenburger Gütern hingegen wurde zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, so dass die reaktionäre Revolte nur durch den Kampf der Landarbeiter niedergeschlagen werden konnte. Stelling analysierte das Geschehens und ließ militaristische, rechtsgerichtete Organisationen verbieten, z.B. „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“.
Ab 1924 war Johannes Stelling als Sekretär des SPD-Parteivorstandes und später als leitender Funktionär der Schutzorganisation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ in Berlin tätig. Er gehörte der Weimarer Nationalversammlung und später dem Deutschen Reichstag bis zum Verbot der SPD an.
In dieser Zeit wohnte die Familie Stelling wie viele andere Arbeiterfunktionäre in den neuen idyllisch gelegenen Häusern hinter dem Bahnhof Köpenick.
Eine trügerische Idylle, denn die Nazi-Umtriebe wurden immer gefährlicher. Nicht alle seiner Kampfgefährten erkannten so wie er die Gefahr, der er mit der Kraft des „Reichsbanners“ entgegentreten wollte.
Im Januar 1933 kamen die Nazis an der Macht. Dennoch mahnte er gemeinsam mit dem Parteivorstand zu „Ruhe und Besonnenheit“. Im Reichstag stimmte er gegen Hitlers „Ermächtigungsgesetz“. Als der Parteivorstand im Mai nach Prag emigrierte, blieb er entgegen den Warnungen seiner Freunde in Deutschland und versuchte, sozialdemokratischen Widerstand zu organisieren .Er fuhr sogar illegal nach Prag, um über die Lage in Deutschland zu informieren. U.a. übermittelte er Erkenntnisse über die Teilnahme von Köpenicker SA-Leuten am Reichstagsbrand. Für die Nazis und die SA wusste er zuviel! Während er den Familien der ersten Verschleppten und Gefolterten noch Hilfe zukommen ließ, wurde er selbst in der „Köpenicker Bartholomäusnacht“ – so die Charakterisierung im „Braunbuch“ von 1933 – eines der ersten Opfer.
Sein Parteifreund Heinrich Reinefeld (sen.) überlebte und schilderte später die Geschehnisse im SA-Lokal Seidler in der damaligen Mahlsdorfer Straße 62/65:
„Etwa 150 bis 200 SA-Leute waren im Saal. Diese SA-Leute lösten sich im Schlagen ab. Ich habe dort auch gesehen, wie Herr Stelling gebracht wurde. Er kam allein in den Saal. Ich kannte ihn schon von Hamburg her und wußte, dass er Ministerpräsident in Schwerin gewesen war. Auch ihm wurden die Hosen heruntergezogen, und er wurde genauso verprügelt wie alle anderen. Er wurde dann aber an eine Seite gebracht und dort für sich allein hingesetzt. Gegen Morgen, als es hell wurde, brachte man uns alle zum Gefängnis.“
Ein Bild von den Folterungen und Grausamkeiten der SA vermittelt eine polizeiliche Aussage über das qualvolle Ende von Johannes Stelling:
In einem am 1.Juli 1933 aus der Dahme gezogenen Sack „befand sich eine männliche Leiche in gekrümmter Stellung. Der Oberkörper war ... nackt und zeigte zahlreiche Schußverletzungen ... An der rechten Hand hatte die Leiche einen goldenen Trauring mit der Inschrift: ‚Fr.Sch.25.12.01(585er Gold)‘. Die Taschen enthielten zwei Taschentücher (blutgetränkt). Eins von diesen war mit ‚J.S.‘ gezeichnet. Der Sack enthielt drei Pflastersteine ... Einwandfrei ist inzwischen die Leiche als diejenige des SPD-Angehörigen Johannes Stelling, geb. am 12.5.1877 in Hamburg, in Köpenick, Dahlwitzer Str. 36 wohnhaft gewesen, identifiziert.“